05
Januar
2021
|
13:06
Europe/Amsterdam

Frans Timmermans, nur robuste fiskalische Signale können den Green Deal retten

Robuste fiskalische Signale notwendig für Green Deal und Farm to Fork

Offener Brief an die Europäische Kommission – am 5. Januar 2020 erschien in der niederländischen Tageszeitung Het Financieele Dagblad eine stark gekürzte Fassung dieses Artikels (nl). 

Im Mai 2020 präsentierte EU-Kommissar Frans Timmermans seine Farm-to-Fork-Strategie als Kernstück des so genannten Green Deals, der ein Budget von 387 Milliarden zur Förderung der europäischen Agrarwirtschaft vorsieht. Die Strategie enthält wegweisende Reformvorschläge für ein gesundes, umweltfreundliches und nachhaltiges Lebensmittelsystem. Jetzt, ein halbes Jahr später, ist wenig davon übrig geblieben. Volkert Engelsman, Vorstandsvorsitzender des Unternehmens Eosta, ist der Meinung, dass der Green Deal und die Farm-to-Fork-Strategie nur noch mit steuerlichen Maßnahmen zu retten sind. Durch True Cost Accounting – einen Ansatz, der den wahren Lebensmittelpreis einschließlich der bisher externalisierten Kosten abbildet – müssten faire Wettbewerbsbedingungen geschaffen werden. Dies ist nicht zuletzt von wesentlicher Bedeutung für die nun anstehenden Berechnungen der künftigen Auswirkungen der Farm-to-Fork-Strategie, denn ohne eine Einpreisung der tatsächlichen Kosten werden dabei Äpfel mit Birnen verglichen.

Mit der im Mai 2020 vorgestellten Farm-to-Fork-Strategie will Frans Timmermans in einer Welt des Klimawandels und instabiler Ökosysteme eine zukunftssichere Nahrungsmittelversorgung gewährleisten. Diese setzt eine Landwirtschaft mit kurzen Lieferketten voraus, die ausreichend robust und weniger anfällig für äußere Einflüsse ist. Die Europäische Kommission hat daher das Ziel ausgerufen, den Anteil der Biolandwirtschaft bis 2030 auf 25 % zu erhöhen. Außerdem will die EU den Einsatz von Pestiziden um 50 % reduzieren. Die Fachzeitschrift Nature bezeichnete diesen Plan am 14. Oktober 2020 als potenziell bahnbrechend. Zugleich betonte sie, dass die Europäische Kommission für dessen erfolgreiche Umsetzung auf den entsprechenden politischen Willen im EU-Parlament und bei den Mitgliedsstaaten angewiesen ist.

Doch daraus scheint nun leider nichts zu werden. Am 23. Oktober 2020 stimmte das Europaparlament für eine neue europäische Agrarpolitik (GAP), die sich allenfalls als „weiter so“ verstehen lässt: Unter dem Einfluss der starken Agrochemie-Lobby wurden laut Corporate Europe Observatory nahezu alle Punkte des Green Deals aus der neuen GAP gestrichen. Der überwiegende Teil der 387 Milliarden Euro an Agrarsubventionen fließt nach wie vor als Hektarprämie in die konventionelle Landwirtschaft. Dem französischen Agrarforschungsinstitut INRAE und der Technischen Universität Paris zufolge rücken die Ziele des neuen Green Deals damit in weite Ferne.

Wie wollen Sie die Agrarreform jetzt noch retten, Herr Timmermans? Im Dezember hatte ich dazu im Auftrag der europäischen Bio-Unternehmen ein Gespräch mit EU-Agrarkommissar Janusz Wojciechowski. Meine Position in dieser Unterredung möchte ich hiermit öffentlich darlegen. Eine echte Vernachhaltigung der Landwirtschaft ist nur dann zu schaffen, wenn konventionelle Großbetriebe nicht länger mit Wettbewerbsvorteilen belohnt werden. Erreichen lässt sich dies nur durch ehrliche Preise, die im Sinne von True Cost Accounting die wahren Kosten abbilden, und durch steuerliche Maßnahmen, die umweltfreundlich und nachhaltig erzeugte Lebensmittel fördern.

Externe Kosten in der deutschen Landwirtschaft: jährlich 90 Milliarden Euro

Was meine ich damit konkret? Die intensive Landwirtschaft, insbesondere die landwirtschaftliche Tierhaltung, verursacht schwere Umweltschäden wie Bodendegradation, Wasserverschmutzung, Verlust an Biodiversität und Klimawandel. Die Kosten dafür werden bisher auf die Steuerzahler und zukünftige Generationen abgewälzt. Hinzu kommen rasant steigende Gesundheitsausgaben, unter anderem aufgrund der Parkinson-Epidemie unter Landwirten und durch die Tatsache, dass immer mehr Menschen stark übergewichtig sind und an Diabetes Typ 2 leiden. Diese Entwicklungen sind direkt darauf zurückzuführen, wie unser Lebensmittelsystem seit Jahrzehnten funktioniert. Die Boston Consultancy Group bezifferte kürzlich die externen Kosten in der deutschen Landwirtschaft auf 90 Milliarden Euro im Jahr.

Wenn wir so weitermachen, sparen wir zwar im Kleinen, agieren aber insgesamt zu verschwenderisch, nach dem Motto: penny wise, pound foolish. Langfristig werden wir Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion so nicht länger gewinnbringend und produktiv betreiben können. Die heutige Coronakrise und die Aussicht auf künftige Pandemien zeigen, dass diese externen Kosten nicht nur unsere, sondern auch nachfolgende Generationen finanziell stark belasten. Wir haben das Ökosystem und die Artenvielfalt so geschwächt, dass wir dem Ausbruch neuer Epidemien nichts mehr entgegenzusetzen haben.

Unsere Forderung: Externalitäten ermitteln und bepreisen

Deshalb fordern wir von der Europäischen Kommission eine Politik, die diese externen Effekte transparent macht. Die Europäische Kommission hat bei der Regulierung der Finanzbranche bereits vielversprechend vorgelegt. Mit Gesetzen und Vorschriften erschwert sie den beaufsichtigten Banken Investitionen in überholte Wirtschaftszweige wie die fossile Brennstoffindustrie.

Die Bepreisung solcher Externalitäten ist mindestens genauso wichtig, denn dieses wirksame Mittel schafft Wettbewerbsgleichheit. Sobald sich externe Kosten in Geldbeträgen niederschlagen, lässt sich das Problem deutlicher kommunizieren und mit konkreten Maßnahmen angehen.

Sie stehen nicht allein da

Herr Timmermans, Herr Wojciechowksi: Wenn die Europäische Kommission aktiv wird und sich für True Cost Accounting und die Bepreisung externer Effekte einsetzt, sind Sie in guter Gesellschaft:

  • Die Zentralbanken unterziehen institutionelle Anleger derzeit Nachhaltigkeitsstresstests.
  • Beratungsunternehmen wie die Boston Consultancy Group befassen sich intensiv mit der Inventarisierung von Externalitäten.
  • S&P Global und andere Ratingagenturen nehmen Nachhaltigkeitsindikatoren in ihre RAROC-Steuerung (Risk-Adjusted Returns on Capital) auf.
  • Wirtschaftsprüfungsgesellschaften wie EY und PwC arbeiten in einer Natural & Social Capital Coalition an Protokollen für eine monetarisierte gesellschaftliche Berichterstattung. Der World Business Council for Sustainable Development ist dabei ein engagierter Mitstreiter.
  • Auch der private Sektor zieht mit. Die deutsche Supermarktkette Penny (REWE Group) weist bereits jetzt in einigen Pilotfilialen neben dem regulären Verkaufspreis auch die wahren Kosten aus. Zudem eröffnete die niederländische Schauspielerin Katja Schuurman in Amsterdam kürzlich den ersten holländischen True-Price-Supermarkt (Bio-Super De Aanzet).
  • Wissenschaftler, unter anderem von der Universität Augsburg, erarbeiten zurzeit aussagekräftige True-Cost-Preisvergleiche.

Erzeugerinteresse

Eine Einpreisung der wahren Kosten unserer Nahrungsmittelproduktion liegt auch im Interesse der Landwirte selbst. Die EU hat die Bauern viel zu lange gezwungen, ihren Quadratmeterertrag ständig zu steigern, mit negativen Folgen für Artenvielfalt, Tierwohl, Landschaft, Arbeitszufriedenheit und alle sonstigen externen Kosten. Stattdessen sollten wir auf die gesellschaftliche Relevanz pro Quadratmeter, sowohl ökologisch als auch sozial, hinsteuern. Mit dieser Methode bekommen die Landwirte faire Preise für ihre Produkte. So verdienen sie nicht nur an der Nahrungsmittelproduktion. Auch ihr Einsatz für die Umwelt, wie Ökosystemdienstleistungen, die Erhaltung der Kulturlandschaft und Beiträge zum sozialen Zusammenhalt in den ländlichen Regionen Europas wird belohnt.

Drei steuerliche Maßnahmen

Die Europäische Kommission kann die Farm-to-Fork-Strategie in die Tat umsetzen, indem sie konkrete steuerliche Anreize prüft, frei nach dem einfachen Haftungsgrundsatz: Wer verschmutzt, zahlt. Dazu plädiere ich für drei Maßnahmen, die ich hier in aufsteigender Reihenfolge ihrer systemischen Wirkung nenne:

  1. Erstens ist es wichtig, dass Sie aktuelle schädliche Fehlentwicklungen bremsen. Zum Beispiel durch eine Besteuerung von agrochemischen Pestiziden, Kunstdünger und importiertem Kraftfutter.
  2. Für eine tiefgreifende Reform müssen Sie eine nachhaltige Eiweißwende bewerkstelligen. Dazu kann eine höhere Fleischsteuer beitragen, ebenso wie eine Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse. So leiten Sie einen nachhaltigen Übergang von tierischem zu pflanzlichem Eiweiß ein, was zahlreiche europäische Organisationen, wie die holländische TAPP-Koalition, vorschlagen.
  3. Wollen Sie die Wirtschaft in ihrer gesamten Breite nachhaltiger gestalten? Dann braucht es einen generellen Umbau des Mehrwertsteuersystems von einer Bruttomehrwertsteuer zu einer Bruttominderwertsteuer: das Ex’tax-Projekt, das die OECD befürwortet. Dieses System besteuert den aus natürlichen Quellen gewonnenen Wert, während die Arbeitsleistung steuerfrei bleibt. Dies ist in zweierlei Hinsicht lohnenswert. Die Umstellung beschleunigt die Kreislaufwirtschaft und bietet einen hohen Anreiz, Arbeitsplätze zu schaffen und unternehmerische Talente zu fördern.

Engagierter Einsatz ist unvermeidlich

Eines ist klar: Die Investitionsinteressen der Agrarchemie, Kunstdüngerindustrie und Kraftfutterindustrie sind riesig. Eine nachhaltigere Gestaltung der europäischen Nahrungsmittelversorgung bedeutet, dass Sie gegen diese mächtigen Interessenvertreter antreten müssen. Dabei stehen Sie unvermeidlich konservativen Kräften gegenüber, die sich vor Veränderungen fürchten. Die Lobby hat bereits erfolgreich Innovationen in der GAP blockiert, aber damit gibt sie sich nicht zufrieden. Die Viehwirtschaft, unterstützt von der holländischen Europa-Abgeordneten Schreijer-Pierik, schreit weiterhin Mord und Brand .

Faire Kostenrechnung

Carola Schouten, Landwirtschaftsministerin in den Niederlanden, hat heute angekündigt, dass die Europäische Kommission die Kosten der Farm-to-Fork-Strategie berechnen lässt. Es ist zu hoffen, dass Sie bei der Analyse auch die externen Kosten der Folgen des Klimawandels sowie die Kosten der Bodenfruchtbarkeit, Wasserqualität, Biodiversität, Gesundheit, des Stickstoffproblems und des sozialen Kapitals berücksichtigen.

Die Europäische Kommission ist jetzt am Zug. Entweder Sie lassen für eine kleine Finanzelite alles beim Alten - auf Kosten von Mensch und Planet und der Bürger Europas.

Oder Sie nehmen die neue Normalität an, wie Sie das lobenswert in Ihrer eigenen Farm-to-Fork-Strategie formulieren. Es ist für Sie unumgänglich, diese Vorschläge in starke steuerliche Anreize umzuwandeln. Nur so gelten gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Marktteilnehmer. Scheitert dies, droht ein Fass ohne Boden und wird von der Farm-to-Fork-Strategie und dem Green Deal in zehn Jahren nichts mehr übrig sein.”

Volkert Engelsman

CEO Eosta / Nature & More